Die Ausstellung Notre – Dame de Paris ist aus drei Gründen interessant:
- Wegen ihres Themas: Notre-Dame de Paris ist ja seit dem schlimmen Brand vom April 2019 eine Baustelle. Es gibt immer wieder Berichte über den Stand der Restaurierung. Hier wird nun systematisch über die Geschichte und Bedeutung des Bauwerks, den Brand und den Fortgang der Bauarbeiten berichtet.
- Interessant ist die Ausstellung auch wegen ihres -für mich neuen- virtuellen Charakters.
- Und schließlich findet die Ausstellung an einem ganz außerordentlichen, aber wenig bekanntem Ort statt, nämlich in dem Refektorium und der Sakristei des ehemaligen Zisterzienser- Kollegs in Paris.
Eine virtuelle, interaktive Präsentation
Angekündigt werden in der Werbung „850 Jahre Geschichte in Ihren Händen“. Was das bedeutet, wurde mir erst klar, als ich dort war. Man erhält nämlich beim Eintritt ein Tablet und darin ist sozusagen die Ausstellung enthalten.
Es gibt also nur ganz wenige Ausstellungobjekte, die man betrachten kann. So zum Beispiel eine Nachbildung der Stygra, der berühmtesten der im 19. Jahrhundert von Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc entworfenen und auf den Türmen der Kathedrale postierten Chimären.
Ausgestellt ist auch die Kopie eines Wasserspeiers (gargouille), die von Schülern des Lycée des Métiers du Bâtiment de Felletin (Creuse) angefertigt wurde.
Davon abgesehen findet die Ausstellung aber virtuell statt. Die Besucher sind also alle damit beschäftigt, auf ihr Tablet (histopad) zu sehen bzw. damit herumzuhantieren.
Gerade für Kinder und Jugendliche offensichtlich ein animierendes Angebot.
Es gibt aber durchaus einen Rundgang, dem man folgen kann. Orientierung bieten große Plakate, die auf die einzelnen Themenbereiche hinweisen. Hier zum Beispiel der Ausschnitt eines Plakats zum Thema Baugeschichte:
Vor den Plakaten gibt es dann ein kleines Podest mit einem Bild, das man mit seinem Tablet scannen kann.
Und dann öffnet sich auf dem Tablet das entsprechende Ausstellungsangebot und man kann sehr lebendig und anschaulich durch die Baugeschichte der Kathedrale navigieren.
Hier der Abschnitt zum Thema Steinbruch: Gezeigt werden die Arbeiten im Steinbruch und der Abtransport der gehauenen Steine mit Schiffen. Die bewegen sich natürlich auch und bei den Pferden am Rand bewegt sich sogar der Schweif…
Insgesamt gibt es 21 solcher Stationen. Natürlich ist eine davon auch dem Brand von Notre-Dame gewidmet.
Da kann man mithilfe einer 3 D- Animation ganz genau den zeitlichen Verlauf des Brandes verfolgen.[1] Aber auch Fotos und Videos der Katastrophe kann man aufrufen oder etwa, wie die Feuerwehrleute bei ihrem Einsatz ausgerüstet waren.
Etwas ruhiger geht es in der alten Sakristei des ehemaligen Collège zu: Thema dort sind die Kirchenfenster von Notre-Dame und ihre Restaurierung.
Hier wird deutlich, welche immense Arbeit erforderlich ist, Notre-Dame wieder im alten/neuen Glanz erstrahlen zu lassen. Und man erhält detaillierte Informationen über den Stand der Arbeiten an der noch sicherlich für zwei weitere Jahre nicht zugänglichen Kathedrale.
Man kann sich damit begnügen, einen groben Überblick über das reichhaltige Angebot der Ausstellung zu bekommen, man kann sich aber auch auf bestimmte Aspekte konzentrieren. Ziel der Ausstellungsmacher vom französischen Start-up Histovery ist es ja gerade, jeden Besucher in einem „environnement interactif“ zum „acteur de sa visite“ zu machen, der dabei auf unterhaltsame Weise informiert wird.[2] Das ist ganz offensichtlich gelungen. Und hinzugefügt sei auch noch, dass diese Informationen, gestützt auf eine fachkundige Beratung, auf gesicherter wissenschaftlicher Grundlage beruhen.
Das Collège des Bernardins, ein zisterziensisches Kleinod
Das Collège des Bernardins gehört zu den eher weniger bekannten Sehenswürdigkeiten von Paris. In Hans-Josef Ortheils schönem Buch Paris, links der Seine wird das immerhin links der Seine gelegene Collège mit keinem Wort erwähnt. Dagegen steht es in einer Zusammenstellung der „Monuments méconnus“ in Paris und der Region Île-de-France an erster Stelle. Es sei außergewöhnlich, heißt es da, dass ein so schönes und seltenes Bauwerk selbst vielen Parisern fast unbekannt sei.[3] Das ist 1975 geschrieben und es mag heute, auch wenn sich seitdem viel verändert hat, immer noch gelten. Sicherlich gilt aber nach wie vor, ja umso mehr, dass es ein außerordentlich schönes und seltenes Bauwerk ist.
Selten ist es insofern, als es sich um eines der wenigen -wenigstens noch teilweise- erhaltenen mittelalterlichen Collèges im Quartier Latin handelt. Es gab dort einmal etwa etwa 60 solcher Kollegs, die der Ausbildung von Geistlichen dienten. Manche waren Gründungen von frommen Einzelpersonen. So das Collège des Robert de Sorbon, Beichtvater des Königs Ludwig IX/Saint Louis. Der Name der Pariser Universität geht auf dieses Collège zurück. Andere waren bestimmten Nationalitäten zugeordnet wie das auf Initiative eines schottischen Königs gegründete Collegium Scotium oder das -allerdings erst zu Beginn der Neuzeit entstandene- wunderbare Collège des Irlandais. Die meisten waren aber Gründungen von Religionsgemeinschaften. So das Collège des Cordeliers der Franziskaner oder eben das Collège der Zisterzienser, das Collège der Bernardins, benannt nach dem Reformator des Zisterzienserordens Bernhard von Clairvaux. Gegründet wurde es 1245, gewissermaßen als Nachzügler. Denn um Gott nahe zu sein und um optimale Voraussetzungen für ein einfaches Leben mit Beten und Arbeiten (ora et labora) zu schaffen, wurden die Klöster der Zisterzienser an weltabgewandten und noch unerschlossenen Orten errichtet. Allerdings zeigte es sich, dass der Orden Anstrengungen unternehmen musste, um die Ausbildung der Novicen zu verbessern – auch um gewissermaßen attraktiv zu bleiben und konkurrenzfähig etwa mit den Bettelorden (wie den Franziskanern), die sich in den Städten installiert hatten. Das Collège des Bernardins diente der Ausbildung von jungen Zisterzienser- Mönchen. Im 14. Jahrhundert wurden alle Klöster des Ordens verpflichtet, Studenten in das Collège nach Paris zu schicken, womit die Unterhaltung und Erweiterung der Anlage gesichert war: Bei den Restaurierungsarbeiten wurde in der Sakristei der Grabstein des Mönches Günter aus Thüringen gefunden.[4]
Auch die Lehrer kamen nicht nur aus französischen Klöstern, sondern auch aus England, Flandern, Spanien und dem Kloster Eberbach im Rheingau. Es war also ein Ort des Studiums, der allerdings gleichzeitig klösterlichen Charakter hatte. Der diente auch dazu, die Novicen von den drei berüchtigten Versuchungen der Stadt, den Frauen, dem Spiel und dem Alkohol, abzuschotten. Das gelang allerdings nicht immer: Die Novicen waren ja nicht nur Geistliche, sondern auch Studenten, die am turbulenten Leben des Quartier Latin teilnahmen. In den Chroniken wird berichtet, dass 1339 einige junge Zisterzienser nachts in Zivil und bewaffnet das Studentenviertel unsicher machten, so dass sie verhaftet und ins Gefängnis Châtelet verbracht wurden.
Entsprechend der Funktion des Collège wurde zuerst ein Gebäude für die Mönchsstudenten errichtet. Es ist der einzige Bau, der von der ursprünglichen weitläufigen Anlage noch erhalten ist: 75 Meter lang und 15 Meter breit.[5] Er verfügte über einen Gewölbekeller und zwei Etagen. Im Kellergeschoss lagerten Vorräte, es diente aber auch als Schreibstube (Scriptorium).[6]
Das Erdgeschoss wurde vielfältig genutzt: als Küche, Speisesaal, Kapitelsaal und Unterrichtstrakt. Heute wird es meist insgesamt als Refectorium bezeichnet.
Im Obergeschoss lagen die Schlafsäle (dormitorium) und die Räume für die Oberen. Es wird heute für Veranstaltungen wie Vorträge und Konzerte genutzt.
Die Konstruktion entspricht der zisterziensischen Tradition: von großer Klarheit, Bescheidenheit, aber durchaus auch Eleganz geprägt, aufs Wesentliche konzentriert. Es ist eine große, innere Ruhe ausströmende Architektur.
Hier einige weitere Eindrücke:
Fotos: Wolf Jöckel
Foto: Annie Didier 2019[7]
Zwischen Verfall und neuem Glanz
Dass das Collège des Bernardins sich heute so wunderbar präsentiert, wäre noch vor einem Viertel Jahrhundert kaum vorstellbar gewesen. Denn die Französische Revolution hatte in sehr brutaler Weise die 500-jährige Geschichte des Collège beendet. 1791 war es verstaatlicht worden. Damals gab es nur noch 6 Mönche. Es wurde nun ein Gefängnis und 1792 ein Schauplatz der sogenannten Septembermorde: Eine aufgehetzte Masse ermordete die im Gefängnis einsitzenden Galeerensträflinge, weil sie angeblich versteckte Mönche seien. 1797 wurde die zum Collège gehörende gotische Kirche zerstört: Ein Akt des Vandalismus im Sinne des antireligiösen revolutionären Furors, aber auch der damals verbreiteten Geringschätzung der Gotik. Ihr fielen in dieser Zeit -auch in Paris- einzigartige mittelalterliche Kunstschätze zum Opfer. Das Refektorium entging diesem Schicksal, weil es seit seiner Verstaatlichung von der öffentlichen Hand vielfältig genutzt wurde. Seit 1845 und bis in die 1990-er Jahre war der Bau eine Kaserne der Pariser Feuerwehr.. Das sogenannte Refektorium war -wie schon zu Zeiten des Collèges- in verschiedene Parzellen unterteilt und diente als Garage, als Erholungs- und Tischtennisraum für die Feuerwehrleute, als Büro und Depot.
Das Ende der Leidenszeit und die Renaissance des Collège begann 2001, als das Erzbistum Paris mit öffentlicher Unterstützung den Bau erwarb, um darin ein katholisches Kulturzentrum zu errichten und so an seine ursprüngliche Funktion anzuknüpfen.
Die Restaurierung bedeutete allerdings eine große Herausforderung, weil das Gebäude durch die vielfältigen Nutzungen, aber auch schon durch seine Lage auf einem morastigen Untergrund in der Nähe der Seine sehr gelitten hatte: Als das Collège gegründet wurde, waren in der dichtbevölkerten Stadt kaum noch Bauplätze vorhanden. Der Gründer des Collège, der Abt von Clairvaux Étienne de Lexington, musste also mit einem hochwassergefährdeten Gelände in der Nähe der Seine vorlieb nehmen. Das Gebäude wurde denn auch von wiederholten heftigen Hochwassern heimgesucht, so dass man das sowieso nicht sinnvoll nutzbare Untergeschoss bis zum Gewölbe mit Erde auffüllte, um die Standfestigkeit des Baus zu sichern. Im Zuge der Restaurierung wurde der Keller freigelegt und die Zwischenwände im Refektorium wurden beseitigt. Erst dadurch entstand der großartige Raumeindruck, den wir heute bewundern können.[9]
Eine ganz besondere Gelegenheit dafür war die nuit blanche 2017, als im Refektorium des Collège eine grandiose Lichtinstallation stattfand, die auch viele junge Menschen anzog.[10]
Die gotische Architektur wurde da verfremdet, aber doch auch im wahrsten Sinne des Wortes ins rechte Licht gerückt: Ein offener und weltoffener Raum.
Victor Hugo schrieb in seinem Roman „Notre-Dame de Paris“, in Deutsch erschienen unter dem Titel „Der Glöckner von Notre Dame“, über den Umgang mit der Gotik:
Zuerst hat die Zeit unmerklich an ihren Bauten genagt und hat ihre Oberfläche mit Spuren der Verwitterung überzogen. Dann haben die religiösen und politischen Aufstände die Menschen blind und rasend gemacht, und die also Verblendeten haben sich über die Bauten gestürzt….
Ein Beispiel dafür ist auch das Collège des Bernardins. Victor Hugo weiter:
Zuletzt haben sich ihrer die Moden bemächtigt …. Sie haben größeres Unheil angerichtet als die Revolutionen; denn sie haben der Kunst ins lebendige Fleisch geschnitten, …. Haben gepfuscht und geändert und haben Form und Bedeutung der Bauten, ihren inneren Zusammenhang und ihre Schönheit zerstört.“ [11]
Für das Refektorium aber, das die Verblendeten in der Französischen Revolution verschont hatten, gilt das nicht: Sein innerer Zusammenhang und seine Schönheit kommen gerade erst durch seine Rehabilitierung wunderbar zur Geltung.
Praktische Informationen:
Adresse: 20 Rue de Poissy, 75005 Paris
Der Besuch des Collège des Bernardins ist derzeit nur im Rahmen der Ausstellung und ihres Begleitprogramms möglich. Die allgemeine Neueröffnung ist für 2024 geplant.
Dauer der Ausstellung: 7. April bis 17. Juli 2022
Öffnungszeiten:
- Montag, Mittwoch, Freitag und Samstag 10-18 Uhr
- Donnerstag und Sonntag 14-18 Uhr
- Dienstag 10-21.30 Uhr
Der Besuch der Ausstellung ist kostenlos und erfolgt selbstständig. Auf den histopads kann man unter 12 verschiedenen Sprachen wählen, natürlich auch Deutsch. Sie werden am Beginn der Ausstellung verteilt.
Da nur eine begrenzte Zahl von histopads verfügbar ist, empfiehlt sich die Anmeldung für ein bestimmtes Zeitfenster: https://billetterie1.collegedesbernardins.fr/spectacle?id_spectacle=742&lng=1
Dies ist ein Beitrag von Wolf Jöckel aus https://paris-blog.org/ . Sollte er unter dem Autorennamen Paul Lucas auf der Seite https://www.voyages-en-patrimoine.com/ veröffentlicht werden, handelt es sich um einen Akt der Piraterie und um einen eklatanten Verstoß gegen das Urheberrecht.
Weitere Blog-Texte zu Notre-Dame de Paris:
Notre- Dame de Paris wie es war und hoffentlich bald wieder sein wird: https://paris-blog.org/2019/04/16/notre-dame-wie-es-war-und-hoffentlich-bald-wieder-sein-wird/
Napoleon, de Gaulle und Victor Hugo: Notre-Dame, die Geschichte und das Herz Frankreichs https://paris-blog.org/2019/05/02/napoleon-de-gaulle-und-victor-hugo-notre-dame-die-geschichte-und-das-herz-frankreichs/
Dessine-moi Notre-Dame/male mir Notre-Dame: Kinderzeichnungen am Bauzaun. https://paris-blog.org/2020/10/15/dessine-moi-notre-dame-male-mir-notre-dame-kinderzeichnungen-am-bauzaun/
Anmerkungen
1] Bild aus: https://www.sortiraparis.com/arts-culture/exposition/articles/250210-notre-dame-de-paris-la-grande-exposition-immersive-en-realite-augmentee-au-college-des-bernardins
[2] https://www.la-croix.com/Culture/Exposition-College-Bernardins-Notre-Dame-renait-ecrans-2022-04-07-1201209114
[3] Henri-Paul Eydoux, Les monuments méconnus. Paris et Ile-de-France. Paris: Librairie Académique 1975, S. 13
[4] Nachfolgendes Bild aus: Le Collège des Bernardins. Hors-Serie de Connaissance des Arts, Paris 2008, S. 12
[5] Angabe aus http://www.bancon.fr/bernardins/berstruct.pdf S. 7
[6] Bild aus: Collège des BernardinsProject — Wilmotte & Associés
[7] https://www.tripadvisor.de/Attraction_Review-g187147-d5607109-Reviews-College_des_Bernardins-Paris_Ile_de_France.
[8] Bild aus: Ministère de la Culture, la plateforme ouverte du patrimoine Ensemble sur la rue (culture.gouv.fr)
[9] Zur Restaurierung siehe: http://www.bancon.fr/bernardins/berstruct.pdf und Collège des BernardinsProject — Wilmotte & Associés. Das Architekturbüro Wilmotte aus dem Faubourg Saint Antoine hat in Paris auch schon andere historische Bauten sehr erfolgreich restauriert, so das Hotel Lutetia und die Mutualité. Siehe: https://paris-blog.org/2019/01/01/das-hotel-lutetia-1-ein-bauwerk-zwischen-art-nouveau-und-art-deco-im-neuen-glanz/ und https://paris-blog.org/2018/09/01/das-haus-der-mutualite-in-paris-und-der-internationale-schriftstellerkongress-zur-verteidigung-der-kultur-1935/
[10] Siehe: https://paris-blog.org/2019/12/02/die-nuit-blanche-das-lichter-und-kunstfest-von-paris/
[11] Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame. Insel-Taschenbuch, Berlin 2010, S. 152/3 Siehe dazu auch: https://paris-blog.org/2019/05/02/napoleon-de-gaulle-und-victor-hugo-notre-dame-die-geschichte-und-das-herz-frankreichs/